Bald folgt eine Gegensteigung, die unweit des «Puig d’en Galileu» ihren höchsten Punkt erreicht. Jetzt reisst der Nebel auf, ein weites Tal öffnet sich zu unseren Füssen, dahinter Bergketten, in der Ferne das Meer. Und weit unter uns, sozusagen mit dem Senkblei auszuloten, blitzen aus dem dichten Grün des Waldes die Dächer des Klosters «Lluc». Wären wir Schwalben, würden wir jetzt zum ultimativen Schwebeflug gen Tal ansetzen, zu einem unvergesslichen Segelflug im goldenen Licht des späten Nachmittags. Aber wir sind Wanderer, und zum Glück auf vorbildlich restaurierten, gepflasterten Pilgerwegen unterwegs. Unsere Muskeln sind nicht von Pappe - mit dem Bergläufer, der plötzlich aus dem Nichts über eine Bergkante aus dem Tal heraufkeucht, könnten wir es vielleicht sogar noch aufnehmen; aber wir müssen gestehen, der lange Abstieg auf Serpentinen zum Kloster, haut uns richtig in die Beine. Anderthalb Stunden steiler Abstieg fordern unsere Oberschenkelmuskeln bis zum Letzten. Als uns, zurück aus der Hochgebirgslandschaft, der Steineichenwald kurz vor dem Ziel wieder verschluckt, erlauben wir uns im Schutz der Bäume einen unkontrollierteren Gang, zu dem auch mal ein Stolpern gehört. Die vielen Pilger, die diesen Weg alters her benutzten und ab und zu heute noch nutzen, waren bestimmt nicht eleganter unterwegs; zumal sie wohl weniger im Hier und Jetzt wanderten als wir, die wir jeden Strauch, jede Bergblume und jedes Tier in vollen Zügen geniessen.
Das Kloster «Lluc», im Mittelalter erbaut, ist das religiöse und intellektuelle Zentrum Mallorcas und zugleich der bedeutendste Wallfahrtsort der Insel. Die Verehrung der Schwarzen Madonna, der «moreneta» geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Heute pilgern hier viel weniger Gläubige als Wanderer hin. Aber auch wir Wanderer sind entzückt, wenn am Ende dieser Königsetappe das hölzerne Tor hinter uns zuschnappt und wir über den Parkplatz hinweg auf das Kloster zugehen, das wunderschön und andächtig an der bewaldeten Bergflanke in der Abendsonne liegt.
Die Touristengrüppchen verlieren sich in der Weite der Klosteranlage, verschwinden unter den Bogengängen und in den zu besichtigenden Räumlichkeiten. So bleibt der Eindruck von Stille, Einkehr und Erhabenheit. Und wenn am Abend die Tagestouristen in ihren Autos und Bussen zurück gefahren sind in die pulsierenden Küstenorte, dann kehrt wirkliche Stille ein, ein wohltuender Klosterfrieden, umhüllt von samtschwarzer Nacht. Man verliert im grossen Refektorium das Gefühl für die Zeit, wenn man am hölzernen Esstisch die müden Wanderbeine von sich streckt. Hier am offenen Kaminfeuer lässt es sich herrlich speisen. Mallorquinisch natürlich. Und in einer der restaurierten Klosterzellen wunderbar schlafen. Himmlisch natürlich.